Yannik Böhmer
Windowtalk
Ein Film-Essay von Alicia Aumüller und Yannik Böhmer
Schauspielhaus Zürich
Als der Lockdown kam, beschloss Ensemble-Schauspielerin Alicia Aumüller zusammen mit einigen Kolleg*innen, für ältere Menschen vor Altersheimen Konzerte zu spielen. Nah und doch fern von ihnen, fragte sie sich: Was fühlen diese Menschen in ihrer Isolation, was hätten sie zu sagen, welche Geschichten zu erzählen?
Das war der Startschuss für die «Fenstergespräche» mit Senior*innen und einen daraus hervorgehenden internationalen Film-Essay: Befreundete Künstler*innen in Mailand, Tallin, Hamburg, Brandenburg und Zürich traten mit Älteren in Kontakt, von Strasse zu Fenster, von Vorplatz zu Balkon. Entstanden sind mehrsprachige und vielstimmige, intime, traurige und hoffnungsvolle Porträts von Menschen in vier Ländern, die pauschal als Risikogruppe zählen und nichtsdestotrotz das Risiko auf Leben noch immer auf sich nehmen.
Mit
Mit: Alicia Aumüller und Yannik Böhmer (Zürich), Teatro Dei Gordi (Milano), Giacomo Veronesi, Jonas Tagel, Liisa Saaremäel in Zusammenarbeit mit Cppm (Tallin), Jette Steckel (Quitzöbel/Brandenburg) und Johanna Luise Witt (Hamburg)
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Wir müssen Reden
von Daniel Binzwanger online Magazin Republik
Man kann und muss darüber streiten, wie strikt die Schutzkonzepte zu bleiben haben, aber wer würde den Cappuccino auf der Café-Terrasse nicht als unaussprechliches Glück empfinden? Die Sonne auf dem Gesicht. Und vor allem: das Gespräch und die physische Begegnung mit anderen Menschen. Gerade in dieser Zeit denkt Republik-Autor Daniel Binswanger ganz besonders an diejenigen, die eben nicht auf den Terrassen sitzen.
Diejenigen, die zu einer Risikogruppe gehören.
Es war schon die ganze Lockdown-Phase über eines der schwierigsten Probleme: Wie soll man mit besonders gefährdeten Menschen umgehen? Und ganz besonders: Wie soll man mit gebrechlichen Senioren umgehen?
Es ist unbestritten, dass sie besonders geschützt werden müssen, weil die Dinge im Ansteckungsfall eine schlimme Wendung nehmen können. Aber ist es richtig, die zu schützenden Personen deshalb wegzusperren? Darf man – zu ihrem eigenen Besten – über ihre Freiheit einfach verfügen? Müsste Fürsorge nicht so gestaltet sein, dass sie die Menschen ermächtigt, anstatt sie aus dem Verkehr zu ziehen? Müsste man nicht zuallererst auf die Stimmen derer hören, die es zu schützen gilt, anstatt sie in die Isolation zu stecken und die Kommunikation zu kappen?
Besonders im Hinblick auf die Bewohnerinnen von Alters- und Pflegeheimen haben sich diese Fragen gestellt. Mit der Gefährdung von alten Menschen lässt sich nicht spassen: Über 50 Prozent der Todesfälle im Kanton Zürich betreffen Heimbewohner. Recherchen der Republik haben im Übrigen offengelegt, dass die Massnahmen zur Abschottung gebrechlicher Senioren teilweise zweifelhaft und vermutlich ungenügend waren. Aber was haben eigentlich die Betroffenen dazu zu sagen? Was denken die Menschen, denen wir diesen Schutz angedeihen lassen und die doch vollwertige Mitglieder unserer Gemeinschaft sind?
Nichts könnte wichtiger sein, als ihre Stimmen zu hören. Gerade jetzt, wo zwar auch in Altenheimen die Sicherheitsvorkehrungen wieder zaghaft gelockert werden, wo aber weiterhin die Vorsicht walten muss. Während draussen das Leben schon fast wieder den gewohnten Lauf nimmt.
Man muss mit den Menschen reden. Auf beeindruckende Weise haben das die Schauspielerin Alicia Aumüller und der Videokünstler Yannik Böhmer vom Zürcher Schauspielhaus getan. In der Zürcher Tagespresse wird ja gerade verbreitet, die grossen Kulturinstitutionen hätten versagt, hätten sich – gemästet mit Subventionen! – während des Lockdown auf der faulen Haut ausgeruht, seien nicht system-, sondern irrelevant. Ich finde, man muss wirklich ahnungslos sein, um so etwas zu behaupten. Was auch bei Pressevertretern, die sich Kulturjournalisten nennen, leider gelegentlich vorkommt.
Aumüller und Böhmer haben stattdessen gearbeitet – und den Filmessay «Window Talks» geschaffen. Gemeinsam mit Theaterleuten in Tallinn, Hamburg, Mailand und Zürich haben sie an verschiedenen Orten Europas alten Menschen das Wort gegeben. Durch Fenster, auf Balkonen, mit Sicherheitsabstand im Freien. Entstanden sind faszinierende Gespräche.
Annemarie Heuer in Hamburg zum Beispiel begegnet ihrer Situation mit hanseatischer Haltung und bewundernswerter Gefasstheit. Sie hat schon andere Dinge erlebt. Als junges Mädchen litt sie an Tuberkulose, musste zehn Monate in einem Gipsbett liegen und wurde nur von einer einzigen Freundin manchmal besucht.
Oder Marje Särme, die sich an die Bombardierung von Tallinn erinnert und noch heute in panische Angst verfällt, wenn ein Düsenjäger zu hören ist. «Das hier ist anders», meint sie. «Ich weiss, dass ich auf mich aufpassen kann.»
Es sind berührende, kluge, interessante Zeugnisse. Aus verschiedenen Kontexten, aus verschiedenen Ecken Europas. Von Menschen, die tatsächlich unseren Schutz verdienen. Es ist wichtig und im fundamentalsten Sinn systemrelevant, mit diesen Menschen im Gespräch zu bleiben. Nicht deshalb, weil wir sie versorgen müssen.
Sondern weil sie uns etwas zu sagen haben.